Nichts kann deutsche Regierungsfunktionäre mehr provozieren als der Hinweis, daß Verordnungen und Praktiken der Nazi-Ära noch immer fortbestehen. Die typische Reaktion darauf ist natürlich, alles von sich zu weisen. Aber für Bundesarbeitsminister Norbert Blüm - und andere - hat die Zurückweisungstaktik ausgedient.
Das Arbeitsministerium selbst hat einen Skandal bestätigt, der die Bundesregierung - mit ihrer Beteuerung, sie habe alle Schatten der Vergangenheit abgeschüttelt - mitten ins Herz trifft. Die internationale Entrüstung nimmt entsprechend zu.
Journalisten enthüllten, daß Zehntausende von Kriegsverbrechern jeden Monat eine „Kriegsopferrente“ vom Bundesarbeitsministerium erhalten. Diese „Opferrente“ summiert sich auf einige Hundert Mark monatlich pro Bezieher und wird zusätzlich zur allgemeinen Rente bezahlt.
Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung in Bonn bestätigte, daß jeder Deutsche, der im zweiten Weltkrieg verwundet worden ist, eine Opferrente erhält. Es wurde auch bestätigt, daß darin auch Deutsche (wie Nicht-Deutsche) eingeschlossen sind, die beispielsweise bei der Waffen-SS gedient hatten.
Demnach erhalten mehr als eine Million ehemalige Soldaten (oder ihre Witwen) Rentenzahlungen direkt auf ihre Bankkonten. Dies kostet 12,7 Milliarden Mark pro Jahr. Davon profitieren, so der Kriegshistoriker Gerhard Schreiber, auch mindestens 50.000 Kriegsverbrecher oder Mitglieder von Terroreinheiten wie der Waffen-SS. Die deutschen Steuerzahler unterstützen die zuletzt genannte Kategorie mit mehr als 600 Millionen Mark jährlich.
Das Gesetz, das diese Rente regelt, wurde in den 50er Jahren erlassen. Ein Entwurf für das Gesetz sah vor, daß Kriegsverbrecher nicht in den Genuß dieser Zahlungen kommen sollten. Diese Einschränkung wurde fallengelassen, als der Gesetzesentwurf vom Bundestag verabschiedet wurde. Die Christlich Demokratische Union von Bundeskanzler Kohl wie auch die SPD haben dafür Sorge getragen, daß das Gesetz nicht angetastet wird. Vertreter der FDP und der Grünen haben kürzlich die Forderung erhoben, das Gesetz sofort zu überarbeiten. In einer Stellungnahme sagten sie, es sei „skandalös“, daß Kriegsverbrecher über Jahrzehnte hinweg vom Staat entschädigt worden seien.
Der Skandal hat auch noch eine andere Seite: Für die osteuropäischen Juden, die tatsächlich Opfer des Naziregimes waren, hat Deutschland noch immer keine finanzielle Entschädigung zu annehmbaren Bedingungen eingerichtet. Die SPD und die FDP unterbreiteten Ende Januar einen Vorschlag, die gleiche Wiedergutmachung jenen Juden zu gewähren, die unter den Nazis in Osteuropa genauso gelitten hatten wie jene im Westen. Mehr als 13.000 Menschen sind betroffen. Sie wurden niemals in irgendeiner Form dafür entschädigt, daß sie in den Händen der Nazis zum Teil furchtbar mißhandelt wurden. Bemerkenswert ist auch, daß jüdische Kriegsopfer in Deutschland momentan 500 Mark im Monat erhalten - 30 Prozent weniger als die Entschädigung, die den Nutznießern der „Opferrente“ gewährt wird, obwohl dort auch jene dazugehören, die selbst Kriegsverbrecher waren oder an Nazi-Terror teilgenommen haben.
Welche Dimensionen die Angelegenheit aufweist, zeigt sich daran, daß holländische Fernsehreporter in Lettland 179 ehemalige „Hitlersoldaten“ aufspürten, die jeden Monat pünktlich ihren Rentenscheck von Bonn erhalten. Im selben Land gibt es Menschen, von denen viele in Konzentrationslagern waren und unter den Nazis gelitten haben, die aber bis zum heutigen Tag noch keine Entschädigung gesehen haben.
Zur Illustration mag auch der Fall des Wolfgang Lehnigk-Emden dienen, ehemals Stabsfeldwebel in der Deutschen Wehrmacht. Im italienischen Dorf Caiazzo war er im Jahre 1943 - so Zeugen - an der Ermordung von 15 Frauen und Kindern beteiligt, aber er ist niemals wegen irgend eines Verbrechens verurteilt worden. Als er schließlich im Jahre 1993 angeklagt wurde, war die Verjährung eingetreten. Der Fall wurde abgewiesen. Wie das ARD-Magazin „Panorama“ aufdeckte, bezieht Lehnigk-Emden eine Rente als „Kriegsopfer“ in Höhe von 708 Mark monatlich, weil er ja im Krieg verwundet worden ist. Zu Hause in seinem Ort hatte er es zu etwas gebracht: Mitglied des Gemeinderats (für die SPD) und Vorsitzender des Karnevalsvereins.
Man darf getrost von folgendem ausgehen: Wenn Hitler nicht im April 1945 umgekommen wäre und auch nicht zum Tod verurteilt worden wäre, statt dessen aber nur eine oder mehrere Kriegsverletzungen abbekommen hätte, wäre er bis zu seinem Tod berechtigt gewesen, jeden Monat einen zusätzlichen Rentenscheck einzustecken.
Es scheint so, als hätte die amtierende Bundesregierung die Begriffe „Opfer“ und „Täter“ durcheinandergebracht. Aber möglicherweise war es wiederum eine kalkulierte Entscheidung. Jedenfalls scheinen Blüm und seine Politkollegen keine Eile zu haben, die Regelung zu ändern.
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